Nachdem die 26-Millionen-Stadt Shanghai angekündigt hatte, zu einer differenzierteren COVID-19-Politik überzugehen, wurde sie Ende März 2022 durch Druck der Zentralregierung in Beijing gezwungen, die Stadt abzusperren. Die offizielle Begründung für diesen drastischen Politikwechsel lautet, dass bei den stadtweiten Tests zu hohe Infektionsraten festgestellt worden seien. Dennoch fragt man sich, warum sich die Behörden nicht für eine weniger kostspielige und aufwändige Alternative zu einer vollständigen Abriegelung einer wichtigsten Millionenstädte Chinas entschieden haben.

Schließlich hat Omicron, das inzwischen für fast alle neuen Fälle weltweit verantwortlich ist, nur geringe Auswirkungen auf geimpfte Menschen. Und obwohl die ältere Bevölkerung Chinas eine überraschend niedrige Impfrate aufweist (etwa 60 Prozent), liegt die Immunisierung dieser Bevölkerungsgruppe durchaus im Rahmen der Informations- und Mobilisierungsmöglichkeiten des Landes. Darüber hinaus sind vollständige Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden. Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass die Schließung Shanghais das gesamte chinesische BIP in diesem Jahr um 4 Prozent verringern wird. Das sind noch optimistische Schätzungen.

Und die chinesischen Behörden haben für zusätzliche wirtschaftliche Unsicherheit gesorgt, indem sie plötzlich von einem viertägigen zu einem unbefristeten Lockdown übergegangen sind. Die Beamten in Schanghai hatten keine Zeit, die für eine längere Abriegelung erforderliche Infrastruktur einzurichten, und die Einwohner konnten sich nicht mit genügend Lebensmitteln eindecken, bevor sie in ihren Häusern eingeschlossen wurden. Die Tatsache, dass die Stadt “nur” 17 Todesopfer zu beklagen hat (Stand: 20. April 2022), hat die Wut und Frustration der Bevölkerung noch verstärkt.

Zwei Fakten sind für das Verständnis der Gründe für die Abriegelung entscheidend. Erstens strebt die chinesische Regierung zwar eine weltweite Führungsposition bei der Impfstoffproduktion an, doch gelten chinesische Impfstoffe weithin als weniger wirksam als jene, die im Westen hergestellt und verabreicht werden. Sollte eine Lockerung der Sperre zu höheren Sterblichkeitsraten bei geimpften Chinesen (im Vergleich zu geimpften Bevölkerungen in anderen Ländern) führen, würde das China zutiefst beschämen – so wird es von den verantwortlichen Autoritäten jedenfalls empfunden – und würde sich in der Weltöffentlichkeit blamieren.

Zweitens gibt es innerhalb der chinesischen Führung einen ständigen Wettstreit zwischen denjenigen, die an eine starke zentralisierte Autorität glauben, und denjenigen, die eine dezentralisierte Verwaltung bevorzugen. Nach der katastrophalen Einheitspolitik des “Big Leap Forward” in den 1950er Jahren übertrug die Reformregierung nach 1978 die Entscheidungsgewalt an die Regionalregierungen, die viel mehr Autonomie in der Wirtschaftspolitik erhielten und ermutigt wurden, miteinander zu konkurrieren. Der fiskalische Föderalismus war ein sehr wirksames Werkzeug zur Förderung des Wachstums, aber er gab den Regionalregierungen auch einen Vorgeschmack auf die Unabhängigkeit. Das öffentlichkeitswirksamste Beispiel für die Vorteile der Zentralisierung der Macht ist Chinas Reaktion auf COVID-19 während der ersten Phase der Pandemie. Durch rasche Abriegelungen, obligatorische Quarantänen und Massentests erreichte das Land einige der niedrigsten Infektions- und Sterberaten (an COVID-19) der Welt – eine bemerkenswerte Leistung für ein Land mit durchschnittlich mittlerem Einkommen und einer der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt.

Shanghai weigerte sich jedoch, einen Lockdown zu verhängen. Die Stadt ist nicht nur die größte städtische Wirtschaft Chinas und das glitzernde Juwel der Reformen nach 1978, die Stadt hat eine längere Geschichte freiheitlichen Denkens. Als Schmelztiegel europäischer Kolonisten und Abenteurer, weißrussischer und jüdischer Flüchtlinge, chinesischer Triaden und anderer Gruppen nach dem Opiumkrieg war sie lange Zeit der Ort, an dem Fernost und West aufeinander trafen. Moderne politische Führer – von den Gründern der Kommunistischen Partei bis hin zu Kuomintang-Figuren wie Sun Yat-Sen und Chiang Kai-Shek – sowie einige der bedeutendsten chinesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (Lu Xun, Qian Zhongshu, Eileen Chang) waren eng mit der Stadt verbunden.

Heute gehören die Einwohner Shanghais zu den gebildetsten, am weitesten gereisten und wohlhabendsten Menschen in China. In den 1990er und frühen 2000er Jahren verzeichnete die Stadt oft Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens von bis zu 28 Prozent pro Jahr, was der Zentralregierung in Peking enorme Einnahmen bescherte – und die die Stadt daran gewöhnten, mehr Einfluss auf ihre (die der chinesischen Regierung) Angelegenheiten zu haben als die meisten anderen Städte. Wenn es um die Verwaltung von Wirtschaft und Verwaltung geht, fühlen sich die Einwohner Shanghais oft sogar Peking überlegen.

Ob zu Recht oder nicht, diese Überzeugung in Verbindung mit der Bedeutung der Wirtschaft Shanghais bedeutet, dass die Zentralregierung die Stadt mit Bedacht verwalten muss. Aus diesem Grund war es Shanghai früher erlaubt, von der nationalen Null-Covid-Politik abzuweichen. Es verfolgte einen flexibleren Ansatz und sperrte einzelne Wohnblöcke, Compounds oder kleinere Distrikte statt der gesamten Stadt ab.

Die Tatsache, dass Peking die Shanghaier Führung letztlich überstimmt hat, kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Zentralisten ihre Macht gegenüber den Befürwortern einer dezentralen Entscheidungsfindung geltend machen. Doch wer wird die Schuld für die weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Kosten tragen, die durch den Lockdown entstehen? Wird es Shanghai sein, das den Anstieg der Infektionsraten zuließ, oder diejenigen, die die Stadt in den umfassenden Lockdown gezwungen haben?

Die Antwort wird einen Hinweis auf die Zukunft von Chinas Bemühungen zur Dezentralisierung geben.