Eigentlich bin ich zur Zeit aus rein persönlichen Gründen in Beijing, aber aufgrund der Tatsache, dass wir im Hotel Kempinski direkt gegenüber der durch die Polizei abgesperrten Zone rund um das Botschaftgebäude/Konsultat von Japan wohnen, macht es unmöglich die Proteste und Menschenmengen auf der Straße zu ignorieren.

Ein weiteres Video von mir in besserer Qualität und auch mit Ton findest sich auf Youtube.

Als wir gestern Abend auswärts in der Nähe Essen waren, fiel bereits auf, dass viele Restaurants mit chinesischen Flaggen und Spruchbändern verhangen sind. Jugendliche haben Aufkleber der chinesischen Flagge auf den den Wangen oder A4 große Aufkleber mit Aufschriften, die auch mit derber Wortwahl widergeben, was sie vom japanischen Gebietsanspruch auf die Diaoyu Inselgruppe halten. Man hört im Fernsehen von ausschreitungsartigen Zwischenfällen, wie dem Anzünden japanischer Autos (und Autohäuser?) in Vorstädten und Randalierern in chinesischen Großmetropolen, Zerstörung von japanischen Kameras. Japanische Restaurants haben geschlossen oder geben sich China-patriotisch, um trotz des fehlenden Umsatzes wenigstens möglichen Übergriffen etwas entgegenzusetzen. Japanische Waren bleiben in den Kaufhäusern liegen und vielleicht nicht zuletzt wegen der zunehmenden Proteste, die mittlerweile auch indirekt der chinesischen Regierung ein zu lasches Vorgehen unterstellen zu scheinen, macht sich die Idee eines Wirtschaftskrieges gegen Japan breit – auch in Regierungskreisen.

Ein paar Demonstranten gönnen sich eine kurze Verschnaufspause. Wer hätte gedacht, dass Meinungsäußerung so schweißtreibend ist.

Ein paar Demonstranten gönnen sich eine kurze Verschnaufspause. Wer hätte gedacht, dass Meinungsäußerung so schweißtreibend ist.

Aber auch am heutigen Dienstag halten die Proteste in Beijing an. Obwol ein normaler Arbeitstag sind Tausende auf der Straße und protestieren außerhalb der Absperrung. Alle fünf bis Zehn Meter steht ein Uniformierter und sorgt dafür, dass der Protestzug in geordneten Bahnen verläuft. Und die Chinesen scheinen es in vollen Zügen zu genießen, protestieren zu können und lautstark ihre Meinung kundzutun. Sie marschieren, skanidieren in Sprechchören “Die Inseln gehören nicht Japan!”, halten Transparente hoch und schwenken Schilder. Jeder Zweite scheint eine kleine chinesische Flagge zu haben. Bis auf fehlende Fahrgeschäfte hat das Ganze schon beinahe ein wenig Volksfestcharakter, obwohl über dem Areal permanent – beinahe einen wohlwohlenden Eindruck hinterlassend – ein Hubschrauber kreist.

Auf Twitter las ich heute:

Darf ich rufen: “Betraft die Korruption!”?
Antwort des Polizisten: “Nein, erlaubt ist nur Inselbezogene Kritik!”

Ich weiß, dass es landesweit zu Ausschreitungen während der Proteste kam und die Stimmung ist zur Zeit wirklich “anti-japanisch” einzuschätzen (Nebenbei bemerkt: Ich bin gerade wirklich froh, keiner zu sein, dass Apple amerikanisch ist und ich das Panasonic-Logo auf meinem Camcorder ganz gut verstecken kann.), aber zumindest was ich hier gesehen habe, laufen die Proteste zur Zeit sehr kontrolliert und schon beinahe “ordentlich organisiert” ab. Die massiven Polizeikräfte schreiten nur selten und sehr verhalten ein und scheinen auch mit nicht mehr als ihrer Uniform bewaffnet zu sein. näher an der Absperrung rund ums Botschoftsviertel sieht das vielleicht anders aus. Vielleicht ist der Grund für die eher besonnene Stimmung der Protestler aber auch woanders zu sehen. Sie scheinen das offene Protestieren und Kundtun einer Forderung wirklich in vollen Zügen zu genießen. Randale oder Ausschreitungen könnten diese “kleine große Freiheit” schnell wieder verschwinden lassen.

Die Suchmaschine Baidu zeigt auf der Startseite Flagge...

Die Suchmaschine Baidu zeigt auf der Startseite Flagge...

Ich sah eine Gruppe von sieben oder acht Leuten mit Transparenten, die auf Rollerblades die für die Demo abgesperrte Straße entlangfuhren. Väter, die ihre Kinder anden den Händen durch die Menge gehen und auf die Demonstranten zeigend etwas erklären, eine Frau auf High Heels und mit einer Gucci Handtasche (oder einem Gucci-Handtaschen-Imitat?), die eine chinesische Landesflagge wie ein Cape trägt, genießt die Aufmerksamkeit der Passanten, die sie fotographieren, auf dem Bordstein sitzen junge Demonstranten und gönnen sich eine kurze Verschnaufpause in der Mittagshitze.

Ich denke bei mir: Ich weiß, dass diese Demo von der Regierung vielleicht nicht mehr als nur toleriert wird, aber ich kann mir gut vorstellen, dass sich die chinesischen Bürger schnell an die “neue Meinungs- und Demonstrationsfreiheit” gewöhnen könnte – auch wenn vor kurzem erst von stattlicher Seite offiziell verkündet wurde, dass wer öffentlich Kriitk an der Regierung oder Regierunsgmaßnahmen übe oder verbreite mit Konsequenzen zu rechnen habe…

...und der Zahnpastaproduzent Zhonghua bezieht Stellung.

...und der Zahnpastaproduzent Zhonghua bezieht Stellung.

Noch ist man es in China weder gewohnt offen zu demonstrieren, noch hatte man dabei das wohlwollende Kontrolle und Unterstützung der Polizei auf seiner Seite. Vielleicht entdecken es gerade beide Seiten. Ich für meinen Teil – ohne wirkliche politische Meinung zum Inselstreit – hoffe, dass die Demonstrationen hier weiterhin ruhig und friedlich ablaufen und unabhängig vom Ergebnis in guter Erinnerung bleiben und sich daraus eine eine neue Demonstrationskultur entwickelt.

Aber mir ist bewußt, dass ich ein hoffnungsloser Optimist bin und bleibe… 😉

UPDATE 20-09-2012:

nicht verschwiegen werden sollte allerdings natürlich auch, dass die Regierung alle weiteren Proteste gegen Japan vorerst verboten hat, um die inner Sicherheit gewährleisten zu können.