Seit längerem schreibe ich heute einen Beitrag in der Kategorie “Privat”, der sich nicht mit meinen mäßig entwickelten Kochkünsten für gut-bürgerliche westfälische Küche beschäftigt und auch nicht mit Bildern des Nachwuchses. Ich habe gestern ein Erlebnis gehabt, das doch schwerer zu verarbeiten ist, als man annehmen möchte. Eine Frau wurde vor meinen Augen angefahren.

Kann man paranoid genug sein?

Es ist 18:15 oder so und ich sitze im Taxi (Rücksitz Beifahrerseite), habe meine Brille auf der Nase und scrolle durch eine mäßig interessante Auswahl von Artikeln, um Lesestoff für die Fahrt nach Hause zu haben. Um diese Uhrzeit erreicht die Rush Hour noch nicht seinen Höhepunkt, aber am German Centre Ecke KeYuan Rd./LongDong Rd ist schon relativ viel los. Der Moment im Taxi zu sitzen und den Heimweg anzutreten hat etwas routinehaftes – ist beinahe ritualisiert. Der Wagen schiebt sich vorwärts, aber muss an einer roten Ampel halten. Wir stehen ganz vorne auf der linken von zwei Linksabbiegerspuren um auf die Schnellstaße abzubiegen. Eine Frau mit rotem T-Shirt überquert die Straße. Der Überweg ist lang, esgilt sieben Fahrspuren zu überbrücken. Oft gehen die Leute los, wenn die Ampel noch nicht grün zeigt.

Schließlich zeigt unsere Ampel grün und wir fahren los. Der Fahrer fährt zügig an, aber die Frau mit dem roten T-Thirt ist schon so weit auf dem Fußgängerübergang, dass der Versuch an ihr vorbeizuziehen und vor ihr links abzubiegen, wie es viele chinesische Fahrer tun, nicht mehr lohnt. rechts fährt ein Wagen an uns vorbei. Ich achte kaum auf ihn, weil ich nach vorne schaue, um zu sehen, warum der Fahrer langsamer geworden ist. Ich sehe die Frau im roten T-Shirt. Sie geht zügig, ohne zu laufen. Der Kleinwagen, der rechts an uns vorbeigefahren ist, drosselt seine Geschwindigkeit nicht.

Das ist der Moment, der sich am besten mit “Ich hab’s kommen sehen!” in Worte fassen lässt. Ich erkenne, dass wenn die Frau im roten T-Shirt nicht stoppt und der Wagen rechts nicht langsamer wird, ein Zusammentreffen unausweichlich ist. Ich will rufen, aber mir schiesst stattdessen nur die Hitze ins Gesicht. Direkt vor meinen Augen trifft der Kleinwagen frontal die Frau im roten Shirt. “Wie konnte der Fahrer sie nicht sehen?”, denke ich – und mein Gefühl sagt: “Ich habe sie doch gesehen, der Fahrer hätte sie sehen müssen!” Alles geht schnell.

Die Frau im roten Shirt wird durch die Luft gewirbelt wie eine Stoffpuppe. Ihre gelben Ballerinas fliegen von ihren Füßen und in hohem Bogen vorwärts. Ich habe Angst, dass sie unter’s Auto gerät. vor ein paar Monaten habe ich als Fußgänger gesehen, wie ein Hund unter einen SUV lief und überfahren wurde. Der Gedanke an das Jaulen des Tieres ist sofort wieder gegenwärtig und ich hoffe Sekundenbruchteile lang so sehr, dass die Frau nicht irgendwie unter dem Auto landet. Gefühlt macht die Frau einen Salto – nicht in echt natürlich, aber ihre Beine sehen so komisch verdreht auf, als sie nach vorne fleigen. Sie landet links neben dem Wagen, der sie angefahren hat. Der Wagen hat gebremst, steht aber noch nicht. Der Kopf der Frau schlägt gefährlich nahe vor dem Hinterrad des Wagens auf. Ich glaube zu erkennen, dass das Rad ihre Stirn berührt. Ich denke sofort wieder an den überfahrenen Hund.

Ich habe Angst. Unsere Wagen steht, ich bin – dämlicherweise – nicht angeschnallt, öffne die Tür und laufe sofort zu der Frau. Der Fahrer des Unfallwagen ist eine Fahrerin, die laut und hektisch in ihr Telefon schreit. Ich knie mich neben die Frau am Boden und einen schrecklichen Moment lang denke ich, sie ist tot. Sie bewegt sich, öffnet die Augen und beging irgendwas zu sagen. Ich verstehe natürlich kein Wort und ignoriere gleichzeitig das wilde panische Geschreie in Ihr Handy der Fahrerin. Die Verletzte will sich aufsetzen. Ich drücke ihre Schultern runter. Ich zeihe ihre große Handtasche zu uns und platziere sie unter dem Kopf der Frau. sie schließt die Augen und stöhnt. Ich bin nur froh, dass sie nicht tot ist und hilflos öffne ich eines ihrer Augenlider, um sicherzustellen, dass sie keinen Schock hat und jetzt ohnmächtig wird. Rechts auf der Stirn hat sie eine gewaltige Kreisrunde – ja was eigentlich? eine Beule? Ich glaube Reifengummi zu erkennen – zumindest blutet es nicht, aber ihr Schädel könnte trotzdem gebrochen sein. Sie regt sich jedoch und will erneut hoch, gibt aber wieder auf und lässt sich erneut zurücksinken.

Ich renne zurück in die Richtung meines Wagens, der plötzlich verschwunden ist! “Ist der etwa abgehauen?”, denke ich noch, dann sehe ich ihn. Er ist ein paar Meter vorgefahren und schreit mich an. Wieder verstehe ich kein Wort. Ich steige wieder ein, zücke mein Handy und rufe meine Frau an. Es klingelt. Der Fahrer drängt mich, irgendetwas zu tun. Ich sehe, dass meine Tasche mit Reisepass, Bankkarten und allem noch auf dem Rücksitz liegt. Meine Frau nimmt ab. Ich stoße ein paar englische Sätze hervor, die ihr erklären sollen, was passiert ist. Endlich glaube ich auch zu verstehen, was der Fahrer will und schließe die bis dahin weit offen stehende Tür. Ich sehe eine weitere Person die Schuhe der Frau einsammeln. Hinter uns wird wild gehupt. Ich verstehe den Fahrer immer noch nicht, er fährt an.

Ich fühle mich wie ein Feigling, aber irgendwie bin ich auch erleichtert, dass mir die Entscheidung da zu bleiben oder nicht abgenommen wurde. Meine Frau meint, ich solle auch erstmal nach Hause kommen und ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass ich bereits mehrere Leute – unter anderem die Unfallfahrerin – habe telefonieren sehen. Ich bin voll mit Adrenalin, das erst fünfzehn Minuten später etwas abflaut, als ich zu Hause meiner Frau alles erzähle. Ich lasse sie die Polizei anrufen, die die Information an die Polizei im zuständigen Distrikt weitergibt. Von dort wird meine Frau angerufen und es wird gar nicht viel gesagt, nur mitgeteilt, dass sie bereits von dem Unfall Kenntnis haben und sie fragen, wer meiner Meinung nach Schuld hat. Für mich schwer zu sagen. Im Nachhinein denke ich, die Frau häte nicht bei Rot schon losgehen dürfen, aber mit Sicherheit hätte die Fahrerin des Wagen bremsen müssen. Sie hatte freie Sicht, ich kann mir das nur so erklären, dass sie irgendwie abgelenkt war und gar nicht auf die Straße gesehen hat. Aber das ist Spekulation.

Ich beruhige mein Gewissen mit dem Argument, dass ich sofort zu helfen versucht habe, aber ich ich hatte einfach nur die “Hose voll bis oben hin” und Angst, dass die Frau schlimmer verletzt ist als ein paar Knochenbrüche. Als Ausländer in China hört man so viele Geschichten von Helfern, die letztendlich zu Opfern wurden. Angeschrien, angegriffen, verklagt – dann noch mit Erfolg. Die chinesischen Gerichte haben in der Vergangenheit ein paar wirklich sehr fragwürdige Entscheidungen getroffen und damit der chinesischen Gesellschaft ein paar wirklich falsche Zeichen gegeben. Und diese Befürchtugen hatten und haben sogar auf mich als Ausländer Einfluss. Irgendwie bin ich aber froh, dass in mir noch genug “Ich muss helfen, bitte lass der Frau nichts passiert sein.” steckt, um das “Hoffentlich mache ich nichts falsch und niemand verklagt mich” in den Hintergrund treten zu lassen.

Abends vor dem Zubettgehen ein kleines Stoßgebet, dass der Frau kein schlimmer Schaden passiert ist und dass es ihr bald besser geht.  Was bleibt, ist das unwohle Gefühl bei wirklich jedem Wagen, der nur annähernd in meine/unsere Richtung fährt. Ganz besonders schlimm, wenn ich mit Kinderwagen oder Gwen an der Hand unterwegs bin. Jeder Wagen, jedes Gefährt, manchmal jede Person kommt mir wie eine potentielle Gefahr vor. Ich lasse es mir selten anmerken und meist habe ich Erfolg meine Ängste zu unterdrücken, aber oft stehe ich unter Spannung.

Ich weiß, dass ich paranoid bin und Paranoia nicht gut ist – meistens.